scroll-to-top

Corona, Medien und die Philosophie

Die Bilder von vereinsamt sterbenden Covid-19-Patienten, die an ihren Beatmungsgeräten hängen, Maskenpflicht, Schulschließungen und Quarantäne haben vielerlei Reaktionen hervorgebracht – und auch Erkenntnisse: So weiß heute wirklich jedes Kind, wie man das Wort „Quarantäne“ ausspricht und was man unter einer Vorerkrankung oder einer Pandemie versteht.

Was die Reaktionen auf die massiven gesellschaftlichen Veränderungen betrifft, reicht das Spektrum von depressiven Schüben über resignative Antriebslosigkeit bis zu Aggression und Trotz. Dieses letztgenannte Aufbegehren gegen die Umstände ist nicht wirklich eine philosophische Attitüde, das Innehalten und der Versuch, der Reflexion Gehör zu verschaffen im allgemeinen Rauschen, schon eher.

So ist auch das „Philosophikum des Brucknergymnasiums – digitale Version“ vom 15.4.2020 zu verstehen, als Versuch eines philosophischen Gesprächs via Videokonferenz und nicht zuletzt als trotziges Aufbegehren gegen die Umstände.

Die Ergebnisse dieser Session sind bescheiden, das Nachdenken über das Medium hingegen zeigt Erfolge, die quasi als Nebenprodukte vom Tisch fallen, und fördern .

Corona, Medien und die Philosophie

Klarheiten über das Medium zutage, die ursprünglich gar nicht angepeilt wurden.[1]

Der Einfachheit halber werden hier einige Erkenntnisse über Pädagogik und Medien in Zeiten des Shutdowns aphorismenhaft zusammengefasst:

  • Über Nacht wurde aus dem Krisenmodus eine alltägliche Beschäftigung, die noch vor wenigen Jahren lediglich Spitzenpolitikern und bösen Hightech-Fanatikern in den James-Bond-Filmen vorbehalten war: Videokonferenzen, mittlerweile eine Kleinigkeit selbst für unsere Schüler*innen der Unterstufe!
  • Allerdings: Wenn der/die erste Lehramtsstudent*in beim ersten Realkontakt mit einer Schulklasse ausruft: „Toll! Wie in den Videokonferenzen!“, dann wissen wir, dass Karl Kraus recht hatte: „Wir bleiben voran und schreiten auf demselben Fleck“[2]. Denn das Bild als Vorlage für die Wahrnehmung der Wirklichkeit war – wenn auch mit Blick auf das Fernsehen – bereits 1956 von Günter Anders postuliert worden.[3]
  • Noch ist das Kommunizieren und Lernen über Konferenzschaltungen der Ausnahmezustand, Normalität sieht anders aus. Apropos Normalität: Plötzlich freuen sich alle auf und dann über eine „neue Normalität“: Ist diese ein neuer Imperativ nach der Eventisierung des Alltagslebens? Oder ist Normalität hier der neue Event, die neue Geilheit? Sind wir am Ende der Postmoderne angelangt und dort gelandet, worauf unser Sehnen schon seit langem gerichtet schien, im Biedermeier, im Garten voller Zwergerl? Oder haben wir etwas dazugelernt?
  • Über Vor- und Nachteile von Lernplattformen wie moodle und Kommunikationssysteme wie WhatsApp und Webkonferenzsysteme wie BigBlueButton lässt sich vorzüglich streiten - das wäre ein interessantes Thema für einen weiteren Zeitungstext. Unbestritten ist, dass diese oder ähnliche Programme einen relativ unproblematischen Kontakt zwischen Schüler*innen und ihren Professor*innen ermöglichten – der nicht unbedeutende Anteil des elterlichen Engagements darf allerdings nicht vergessen werden.
  • Gleichzeitig haben sich diese Medien auf dem momentanen technischen Niveau als Wunderwaffen der Zukunft entzaubert: Sie sind zu langsam, zu mühsam, zu störanfällig, um als Ersatz selbst für einen ganz einfachen Unterricht gelten zu können. Die Bilder von 20 und mehr Schüler*innen am Desktop vermitteln zwar einen Anschein von einem gemeinsamen Raum, der für die Kinder ziemlich wichtig ist, doch schneidet etwa die Kameraperspektive vieles von dem weg, was im Regelunterricht ganz selbstverständlich in der Wahrnehmungswelt aller Beteiligter zuhause ist: Mimik und Gestik etwa, andere Dinge und Ereignisse in der Umgebung...
  • Insofern befinden wir uns „Im Schwarm“[4]. Wir alle bewegen uns in unseren individuellen Räumen, also vereinzelt, zugleich auf unsere Bildschirme starrend, also insofern vereint.
  • Die gegenwärtige Menge an Menschen, die sich vor ihren Bildschirmen „versammeln“, unterscheidet sich fundamental von den Massen von einst: Sie besteht aus vereinzelten Individuen, ohne versammelnde oder vereinende Seele. Sie äußert sich nicht als EINE Stimme, sondern als Lärm.[5]
  • Dank Skype, BigBlueButton und so weiter „können wir uns nahe sein, 24 Stunden am Tag, aber wir schauen fortwährend aneinander vorbei“[6]: Die Zeitverzögerung in der Übertragung und die Positionen der Webcams verzerren die Kommunikation.
  • Wir schauen oft an der Kamera vorbei. In Zukunft wird eine App dieses Problem beseitigen können und eine neue Dimension der Virtualität von Kontakten zwischen Menschen erschließen: „Die Aufmerksamkeitskorrektur manipuliert das Videobild derart, dass der Nutzer stets in die Kamera zu schauen scheint und damit direkten Blickkontakt mit dem Gesprächspartner hält.“[7]
  • Was sich leider auch gezeigt hat und niemanden überraschen wird: Wenn die Welt untergeht, werden wir das nicht bemerken. Wir werden mit anderem beschäftigt sein, vor allem mit Streiten, vor allem über Ressourcen (Masken, Medikamente...).
  • Die Wahrnehmung von Leid und Elend in diesem Ausmaß und vor allem in dieser Nähe – wenn auch durch Fernsehen und Internet vermittelt - ist für Österreicher*innen neu.
  • Angeblich zeigt die Krise Zustände ja wie unter einer Lupe, Tendenzen verstärken sich. Ob das stimmt, mögen andere entscheiden. Die Charakteristika eines Systems werden jedenfalls deutlich. Was können wir erkennen? Dass das Gymnasium noch mehr zu dem geworden ist, wozu es schon seit geraumer Zeit zumindest medial verurteilt war: einer Verwahranstalt. Wir konnten in den Kommentaren der Tageszeitungen kaum jemals ein Lamento lesen, dass unsere Schüler*innen jetzt zu wenig lernen, immer ging es nur darum, dass niemand wusste, wohin mit den Kindern und Jugendlichen, wenn die Schulen schließen.

Abschließend noch zwei kleine Bemerkungen zur Psychologie der Wahrnehmung in den Zeiten des Shutdowns:

  • Risiken werden als bedrohlicher wahrgenommen, wenn einen die Konsequenzen unmittelbar betreffen.[8] Deshalb wird fälschlicherweise das Rauchen wegen seiner Langzeitfolgen als weniger gefährlich eingeschätzt als etwa eine Bergtour. Selbiges zeigt sich aktuell im Vergleich zwischen Corona und dem Klimawandel.
  • Sehr schön zu beobachten war das Phänomen des Zeitparadoxons. Nahezu alle meine Schüler*innen berichteten, dass ihnen die Zeit des Shutdowns lange erschienen wäre. Im Rückblick jedoch schien sie wie im Flug vergangen, wie ein Tag. Eine aktuelle Studie der Londoner Psychologin Ruth S. Ogden zur Zeitwahrnehmung im Shutdown bestätigt diese Beobachtung allerdings nicht.[9]

Für viele blieb viel Zeit übrig in diesen Tagen. Fahrtzeiten, Schulwege, Wartezeiten fielen weg. Zu einer umfassenden Kehrtwende wird es nicht kommen, keine globale Entschleunigung kündigt sich an. Donatella di Cesare sieht eine Parallele zwischen dem Virus und dem globalen kapitalistischen System und vermutet sogar, dass die Menschheit „eine furchtbare Seuche braucht, um überhaupt einmal zum Innehalten zu kommen“[10].So manche*r ahnt bereits: Dumme laufen, Kluge warten, Weise gehen in den Garten.

Bericht von Mag. Roland Luft

[1] ... vgl. Rosenberg, J.: Philosophieren. Ein Handbuch für Anfänger, Frankfurt 2009, S. 45
[2] ... Kraus, K.: Der Fortschritt, F 275/76, Wien 1909, S. 37
[3] ... vgl. Anders, G.: Die Antiquiertheit des Menschen, Bd 1, München 71992, S. 97ff
[4] ... ein Essay des südkoreanisch-deutschen Philosophen Han, Byung-Chul: Im Schwarm. Ansichten des Digitalen, Berlin 2013
[5] ... vgl. Han, B.-C.: Im Schwarm. Ansichten des Digitalen, Berlin 2013, S. 32
[6] ... ebda, S. 37
[7] ... https://www.heise.de/mac-and-i/meldung/Fuer-mehr-Augenkontakt-FaceTime-kann-kuenftig-Blickrichtung-manipulieren-4461969.html (11.7.2020)
[8] ... vgl. Krohn, W. und Krücken, G. (Hgg.): Riskante Technologien, Frankfurt 1993, S. 86ff
[9] ... vgl. https://journals.plos.org/plosone/article?id=10.1371/journal.pone.0235871 (13.7.2020)
[10] ...Vasek, Th.: Die An-archie der Philosophie. – In: Hohe Luft 5/2020, S. 83. Zu: di Cesare, D.: Souveränes Virus?, Konstanz 2020